2011 - Neujahrsansprache von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey

1. Januar 2011 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes.

Ich freue mich sehr, Ihnen heute am ersten Tag des neuen Jahres die guten Wünsche des Bundesrats zu überbringen.

Das letzte Jahr war nicht immer einfach. Auch die Schweiz hat die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu spüren bekommen. Statistisch gesehen mag es der Schweiz besser gehen als anderen. Aber hinter den Zahlen gibt es auch bei uns Menschen, die Mühe haben, über die Runden zu kommen. Auch bei uns müssen wir an die notwendige Solidarität mit den Schwächsten erinnern. Auch bei uns nimmt der Abstand zwischen den Reichen und Armen zu. Auch bei uns gibt es Arbeitslosigkeit und Unsicherheit.

Um diese Probleme und Herausforderungen erfolgreich angehen zu können, braucht die Schweiz eine starke und geeinte Regierung, die mit einer Stimme spricht.

Ich werde in diesem Jahr Ihre Bundespräsidentin sein. Ich gehöre zu denen, die der Auffassung sind, dass das Rotationsprinzip beim Bundespräsidium dem schweizerischen Willen zum Ausgleich entspricht: zum sozialen Ausgleich, zum Ausgleich zwischen den politischen Parteien, zum Ausgleich zwischen den Konfessionen, zwischen den Sprachen, zwischen Stadt und Land. Dieser Wille zum Ausgleich macht die Besonderheit der Schweiz aus, ihren Zusammenhalt und ihre Stärke.

Unser Wille zum Zusammenleben, zur Versöhnung unterschiedlicher Interessen und Identitäten, verpflichtet uns zur Teilung der Macht, zur Konsenssuche und damit zum Verzicht auf institutionelle Spielchen.

Die Schweizerinnen und Schweizer sind gegen Exzesse, Provokationen und den Ausschluss Andersdenkender. Bundesrätinnen und Bundesräte sind nicht Parteichefs. Sie setzen sich für ihre Ideen ein, müssen aber gleichzeitig unabhängig sein. Das Amt der Bundespräsidentin ist eine zusätzliche Verpflichtung, den Konsens im Bundesrat zu suchen.

Ich wünsche mir, dass die Kollegialität unsere Art des Politisierens weiterhin leitet. Sie kann nur funktionieren, wenn alle bereit sind, sich für das Ganze einzusetzen.

Ich werde die Bundespräsidentin aller Schweizerinnen und Schweizer sein.

In seiner neuen Zusammensetzung besteht der Bundesrat zum ersten Mal in der Geschichte mehrheitlich aus Frauen. Dass dies in einem Klima der Normalität geschieht, zeigt, wie sehr sich das Bewusstsein weiterentwickelt hat. Das ist ein wichtiger Sieg für alle Frauen. Im Kampf für die Gleichstellung erleben wir Erfolge und Misserfolge, aber heute haben wir eine wichtige Etappe erreicht. Dazu können wir uns gratulieren.

Ich weiss, dass Bescheidenheit und Selbstkritik typisch schweizerische Tugenden sind. Für das nächste Jahr aber wünsche ich uns allen ein bisschen mehr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Wir werden es nötig haben. Die Globalisierung von Wirtschaft, Technologie, Kommunikation und Verkehr hat zu einer Reihe von Risiken geführt, deren Grössenordnung alles übertrifft, was wir bis jetzt gesehen haben: Armut, Instabilität der internationalen Finanzmärkte, Umwelt- und Klimaveränderungen, Terrorismus, Migrationsdruck. Diese Risiken sind miteinander verbunden und halten sich nicht an nationale Grenzen.

Die Welt ist kleiner geworden. Das ist eine Tatsache. Ich kann gut verstehen, dass einem das Angst machen kann. Doch der Rückzug in unsere Berge ist keine Lösung. Die Schweiz ist keine Insel. Wir müssen uns selbstverständlich um die wichtigen Fragen kümmern wie die Arbeitslosigkeit, die Sicherheit oder der Umweltschutz. Aber diese Fragen müssen wir auch in Zusammenarbeit mit anderen Staaten und der internationalen Gemeinschaft angehen.

Diese globalisierte Welt eröffnet uns grossartige Chancen, aber sie erzeugt auch Ängste und Bedenken. Das nehme ich ernst. Darum will ich in diesem Jahr als Bundespräsidentin zugänglich sein für Ihre Sorgen, Anliegen und Freuden. Politik heisst auch, dass man zuhört, sich austauscht und für einander einsteht.

Als Bundespräsidentin werde ich auch Ihr Sprachrohr im Ausland sein. In dieser Funktion werde ich mich dafür einsetzen, die Partnerschaft mit unseren Nachbarn zu stärken, die Beziehungen zur Europäischen Union zu vertiefen und auf konstruktive Weise zur Lösung der globalen Probleme beizutragen.

Die Schweiz ist schön. Tragen wir Sorge zu ihr.

Ich wünsch Ihnen allen von ganzem Herzen ein gutes neues Jahr.

Neujahrsansprache 2011 (MP3, 4 MB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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